Drei Sätze – eine Textkritik

Kürzlich fand ich auf einem Blog eine Rezension des Buches „Das Integrationsparadox“ von Aladin El-Mafaalani [1]. El-Mafaalani schreibt darüber, dass die Integration Zugewanderter daran sichtbar wird, dass gesellschaftliche Konflikte zunehmen. Diese Konflikte sind aus seiner Sicht nicht Ausdruck einer Integrationsverweigerung, wie vielfach angenommen würde, sondern belegen einen erfolgreich verlaufenden Integrationsprozess. Unser Blogger empfiehlt das Buch und schreibt, von Überlegungen zum muslimischen Kopftuch angeregt, folgende drei Sätze:

Kaum jemand hatte zum Beispiel ein Problem mit Kopftuchträgerinnen im Schuldienst, solange sich diese auf den Putzdienst beschränkten. Zum erregt diskutierten Thema wurde das Kleidungsstück erst, als die ersten Musliminnen mit einem Kopftuch den Lehrberuf ergriffen. Ebenso eskalierte ja auch der europäische Antisemitismus, nachdem sich Jüdinnen und Juden aus den abgeschotteten Ghettos heraus erfolgreich für säkulare Bildung und Berufe geöffnet und gesellschaftlich assimiliert hatten.

Fast hätte ich darüber hinweg gelesen, so schön menschelnd ist das formuliert: Die Lehrerin. Das Kopftuch. Der Antisemitismus. Die Öffnung. Die Assimilation. Aber was da so menschelt, stimmt vorne nicht. Es stimmt übrigens auch hinten nicht. Und zwischen vorne und hinten ist es auch nicht viel besser.

Zunächst sind Menschen, die einem regelmäßigen Erwerb nachgehen, indem sie in Schulen putzen, keine Angestellten im Schuldienst. In den Schuldienst tritt ein, wer ein Lehramt, Pädagogik oder Sozialpädagogik studiert hat. Lehrer brauchen noch ein paar Staatsexamina, und so wertvoll eine oftmals zu Unrecht herabgewürdigte Putztätigkeit auch ist, es führt kein einziger Karriereweg die Putzfrau zur Direktorin.

Auch die allgemein angesprochenen Musliminnen, die den Lehrberuf ergriffen hätten, haben, vermutlich als Kinder Zugewanderter, eine Schule besucht, wechselten auf ein Gymnasium, besuchten eine Universität, absolvierten Staatsexamina, erwarben dadurch die Lehrbefähigung und damit die Voraussetzung für den Lehrberuf. Ergriffen haben sie den Lehrberuf erst, wenn sie eine Arbeitsstelle als Lehrerin gefunden haben. Wenn es eine Auseinandersetzung um das Kopftuch als Einstellungshemmnis gab, so daß sie den Lehrberuf zunächst nicht ergreifen konnten, gingen sie vor Gericht. Nicht nur vor ein Gericht, sondern der Reihe nach gleich vor mehrere, bis ihre Angelegenheit am höchsten zuständigen Gericht in Deutschland ankam.

An dieser Stelle ein paar Worte zur Auseinandersetzung um das Kopftuch, die vom Blogger hier in eindeutiger und parteiischer Weise beurteilt wird. Grundsätzlich geht es um Rechtsgüter, die gegeneinander abgewogen werden. Auf der einen Seite steht die Religionsfreiheit (das Kopftuch ist damit eben nicht traditionelles Kleidungsstück, sondern wird mit einer religiösen Bedeutung aufgeladen, ob das richtig oder falsch sei [2]), auf der anderen die Forderung nach einer bekenntnisfreien und religiös neutralen Schule. Das Berliner Neutralitätsgesetz zum Beispiel untersagt alle religiösen Symbole und trifft damit nicht nur das Kopftuch, sondern auch die Kippa und das christliche Kreuz, obwohl diese in ihrer Bedeutung schwerlich mit dem Kopftuch zu vergleichen sind.

Gesellschaftlich steht das muslimische Kopftuch auch für die Angst vor einer Abkehr von der Befreiung von religiösen Zwängen in einer durch und durch säkularisierten Gesellschaft, und für die Unterdrückung der Frau bis hin zur Segregation in muslimischen, patriarchalen Gesellschaften. Eine Frau, die in Saudi-Arabien Fahrad fahren möchte – eine Praxis, die von einschlägigen Gelehrten immer wieder als ungesund für Frauen beschrieben wurde, während nicht nur hier, sondern auch in China Myriaden von Frauen täglich ohne resultierende Erkrankungen hin und her radeln -, muss sich zunächst verhüllen, die Stadt durchqueren, um einen Frauenfahrradplatz zu erreichen, und dort endlich, durch meterhohe Wände vor den entehrenden Blicken der Männer geschützt, kann sie unter ihresgleichen die Verhüllung abwerfen und sich kreisfahrend dem Taumel der Geschwindigkeit auf einem Damenfahrrad hingeben [10].

Man muss Katar nicht bereisen, es reicht ein Foto an einem durchschnittlichen Sommertag in der Wüste (es gibt da nichts anderes), und man kann die Praxis der Segregation erkennen: Der junge Mann, der Gatte, ein paar Schritte voraus in kurzen Hosen und Shirt, die Ehefrau folgend, verborgen unter schwarzen Kleidern, die sie unkenntlich machen, und das bei Temperaturen um fünfzig Grad [12]. Auch wenn der Mann in Katar üblicherweise das traditionelle Gewand trägt und die Verhüllung der Frau nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, obgleich sie von 90% der Frauen praktiziert wird (beginnend mit der Pubertät, die zum Tragen des Kopftuchs führt, das das Gesicht noch frei läßt), sind solche Abbildungen in westlichen Gesellschaften, deren Frauen sich ihre Rechte über lange Zeit erkämpfen mussten, eindrückliche Symbole der Segregation. Bedeutende Frauen in arabischen Gesellschaften haben das Kopftuch bereits um 1920 abgelegt [3], aber die Entwicklung war für sie nicht günstig: In Ägypten ist das Kopftuch heute die Regel, anders als etwa in den fünfziger Jahren.

Während in Europa Musliminnen die Gerichte bemühen, um das Tragen des Kopftuches als religiöses Symbol im Staatsdienst zu erzwingen, bemühen sich die Frauen andernorts, sich nach eigenen Vorstellungen und ohne Kopftuch kleiden zu können. Im Iran filmen sich Frauen ohne Kopftuch und veröffentlichen ihre Videos und Fotos in den sozialen Medien unter dem Hashtag #MyStealthyFreedom. Sie riskieren dabei Strafen, die wir uns in Europa nicht mehr vorstellen können [4]. Der Akt des Ablegens des Kopftuchs symbolisiert nicht nur den Widerstand gegen die herrschende patriarchale Priesterkaste, er ist nicht nur ein Akt der Emanzipation, sondern viel mehr: Sichtbarwerdung.

Ganz gleich, welchen Standpunkt man im Kopftuchstreit einnehmen mag, man kann die Dimensionen der Auseinandersetzung nicht, wie unser Blogger, außer Acht lassen. Was die einen innerhalb des Rechts der Religionsfreiheit fordern, fürchten die anderen als letztlich die Gesellschaft verändernden, totalitären religiösen, und damit in Konsequenz politischen Anspruch.

Der dritte Satz enthält in sich bereits einige Formulierungen, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Juden und Jüdinnen hätten sich für säkulare Bildung und Berufe geöffnet, heißt es. Während säkulare Bildung den Besuch staatlicher Schulen meinen mag, ergeben die Berufe keinen Sinn: weder in der Formulierung, sie hätten sich für Berufe geöffnet, noch in der anderen Deutung, sie hätten sich für säkulare Berufe geöffnet. Nicht säkulare Berufe [9] sind solche, deren Ausübung ein religiöses Bekenntnis erfordert, wie beispielsweise Papst, katholischer Priester, Imam, jüdischer Tempelpriester oder Rabbi. Während für jüdische Tempelpriester seit der Zerstörung des zweiten Tempels kein ernsthafter Bedarf mehr bestand, kannte das rabbinische Judentum viele Rabbiner, die sich ihren Lebensunterhalt wie alle anderen Juden selbst beschaffen mussten. Den Lebensunterhalt beschafft man sich üblicherweise durch Arbeit, und meistens wurde dazu ein Beruf erlernt. Die Formulierung, Juden hätten sich für säkulare Berufe geöffnet, impliziert, sie hätten zuvor nur nicht-säkulare, mit anderen Worten „typisch-jüdische Berufe“ ausgeübt. Die Konsequenzen dieser Feststellung lasse ich aus.

Die nächste auffällige Formulierung ist die Behauptung einer Öffnung des Judentums für die seltsamen Berufe, mit anderen Worten, eines bewusst dargebrachten Aktes der Jüdinnen und Juden als wesentliche und einzige Voraussetzung der Assimilierung. Was die Formulierung nahe legt, darf ich kurz illustrieren:

Die Jüdinnen und Juden stehen da in ihrem Ghetto in der Frankfurter Judengasse herum, und so oft der Ausrufer des Souveräns vorbeikommt und ausruft: „Oh ihr Juden, verlasst das Ghetto, nehmt euch eine schöne Wohnung in der Gartenstraße da drüben, besucht unsere säkularen Schulen und Universitäten, ergreift säkulare Berufe wie Briefträger, Forstverwalter, Lampenputzer oder Perron-Billet-Verkäufer, öffnet euch für säkulare Bildung und Berufe“, starren sie nach unten, schütteln den Kopf und gehen weiter ihren ominösen Nicht-Berufen oder auch Nicht-säkularen-Berufen nach, bis sie an einem Tage, den der Ausrufer nicht mehr erwartete, die Arme ausbreiten, sich plötzlich öffnen und in Scharen an die Universitäten strömen, als hätte der Gott der Christen plötzlich den Heiligen Geist der letzten Öffnung über sie ausgegossen.

Aber so war es nicht.

Der Blogger verwendet überraschenderweise den schwierigen Begriff der Assimilation [5], einer Forderung also nach Angleichung an die oft feindliche, christliche Mehrheitsgesellschaft unter Aufgabe eigener Kulturgüter, während zeitgenössisch zunächst von Gleichstellung, dann von Emanzipation gesprochen wurde. Assimilation wurde in Deutschland später, ab Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert, aber sie bedeutete eben die völlige Aufgabe der jüdischen Herkunft und hatte daher wohl keine Mehrheit im europäischen Judentum, wie auch Hannah Arendt meinte. Aber anders als unser Blogger nahelegt, mußten nicht die Jüdinnen und Juden sich „öffnen“, sondern die Mehrheitsgesellschaft, die die Juden in Europa über Jahrhunderte entrechtet hatte.

Die Emanzipation der Juden begann in den USA mit der Einsetzung der Verfassung, in Frankreich mit der französischen Revolution (wobei ihre Rechte kurz darauf teilweise außer Kraft gesetzt wurden, mit der Begründung, man wolle ihre Emanzipation fördern), in Deutschland dauerte sie auch aufgrund der Vielstaaterei lange Zeit (man findet die Zeitspanne von 1817 bis 1871, was in gewisser Weise willkürlich ist) und wurde letzten Endes in vollem Umfang erst im Kaiserreich 1871 verwirklicht (was nicht bedeutet, dass das antijüdische Ressentiment verschwand: eine jüdische militärische Karriere war nicht denkbar). Noch im Preussen Friedrichs des Großen mussten Juden Schutzbriefe erwerben, um das Recht der Ansiedlung und den Schutz des Souveräns zu erhalten. Der Schutzbrief wurde immer wieder neu verhandelt; die jüdischen Gemeinden wurden so zu regelmäßigen Zahlungen gezwungen, die nicht jeder Jude aufbringen konnte, wofür dann die Vermögenderen unter ihnen einsprangen.

Aber der Blogger schreibt vom europäischen Antisemitismus, also müssen wir den Blick weiten und die Situation im Ansiedlungsrayon des Zarenreiches betrachten, in dem die Mehrheit des europäischen Judentums nach der dritten polnischen Teilung zu leben gezwungen war. Das Zarenreich, das in seinem imperialen Drang mit Westpolen, Teilen Litauens, Bessarabien, einem Streifen der Ukraine und und einem Teil Weißrusslands unverhofft an die Juden gekommen war, ließ sie zunächst an Bürgerrechten teilhaben, beschränkte aber Aufenthalt und Freizügigkeit mit wenigen persönlichen Ausnahmen auf den Ansiedlungsrayon, um dann über zwei Jahrhunderte die Zügel stärker und stärker anzuziehen, die Rechte mal um mal einzuschränken, bei immer wieder auftretenden Pogromen. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten verschlechterten sich, der Rayon litt zunehmend unter Verelendung [11].

Nach dem Attentat auf Alexander II. im Jahr 1882 brachen erneut Pogrome aus [6]. Die zaristische Regierung untersuchte, stellte fest, die Ursache wäre „jüdische Ausbeutung“ und erließ die „Zeitweiligen Gesetze“, die Juden verboten, sich außerhalb von Städten und Kleinstädten niederzulassen. In der Folge kam es zu einem Ansturm jüdischer Schüler auf staatliche Mittel- und Hochschulen, der wiederum den Widerstand der christlichen Gesellschaft hervorrief. In der Folge wurde bestimmt, dass im Ansiedlungsrayon für Juden ein Numerus Clausus von 10% gelten sollte, im restlichen Russland von 3 bis 5% (eine Stadt im Rayon konnte schon mal einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 50% haben). Auch hier lässt sich feststellen, dass die Emanzipation der Juden nicht die „Öffnung“ der Juden zur Voraussetzung hatte, sondern ihre rechtliche Gleichsetzung, soweit sie Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten betraf.

Stellen wir fest: Die Mehrheit der europäischen Juden lebte zur Zeit ihrer Emanzipation im russischen Ansiedlungsrayon, nachdem europäische Politik sie über Jahrhunderte immer weiter nach Osten verdrängt hatte. Anders als unser Blogger darstellt, erforderte dort die Emanzipation nicht das Verlassen des Ghettos [7], das er in lautmalerischer Weise erwähnt. Sie erforderte das Verlassen des Stetl. Und wer es verließ, musste dorthin gelangen, wo er ohne Gefahr für Leib und Leben gleichberechtigt leben durfte. Zwischen 1881 und 1914 gelang das ungefähr zwei Millionen russischen Juden. Viele von ihnen wanderten in die USA aus, einige gingen in das Osmanische Reich, dorthin, wo später das britische Mandatsgebiet Palästina entstehen würde, und legten ab 1882 die sumpfigen Böden trocken, die ihnen die Effendis zu überhöhten Preisen überlassen hatten. Die Emanzipation des europäischen Judentums war zu einem großen Teil Auswanderung, ein Fakt, der gern übersehen wird, auch wenn die Auswanderung zu dieser Zeit ohne Emanzipation nicht denkbar ist.

Wir fassen zusammen, was wir bisher fanden: Die Assimilation der Juden in Europa war in Wirklichkeit die Emanzipation. Die Emanzipation der meisten europäischen Juden bedeutete nicht das Verlassen des Ghettos, sondern des Stetl. Sie verlangte weniger eine „Öffnung“ der Juden für säkulare Bildung und Berufe, als die rechtliche Gleichstellung mit der Mehrheitsbevölkerung. Vor der Gleichstellung konnte sich der Jude von morgens bis abends für säkulare Bildung und Berufe öffnen, und auch, wenn er sich dazu nachts wie ein Albigenser kasteite oder ein Bild vom Papst in die Stube hängte, so lange er nicht das Recht auf Bildung und freie Berufswahl besaß und denselben Gesetzen unterlag wie alle anderen Bürger, half das alles nichts.

Ein paar Worte zu den abgeschotteten Ghettos, aus denen heraus sich die Jüdinnen und Juden öffneten u.s.w. Das berühmte Ghetto in Frankfurt wurde 1796 durch französische Truppen vernichtet, und die Juden durften es verlassen. Sie kamen überraschenderweise nicht auf die Idee, es neu zu errichten. 1871 gab es in Deutschland kein Ghetto mehr. Der Begriff „abschotten“ verweist auf das Schott, eine Einrichtung, die als durchgehende Wand aus dem Schiffbau bekannt ist und das Eindringen von Wasser in Teilbereiche des Schiffes verhindern soll, falls das Schiff leck läuft. Es ist also eine Einrichtung im Inneren zum Schutz gegen das Äußere. Die Wortwahl „abgeschottetes Ghetto“ hat eine Tendenz zur Behauptung, es seien die Ghettos und damit deren Bewohner, die sich gegen das Äußere abgeschottet hätten. So einleuchtend es klingen mag („Ei jo, Ghetto, die wollten das so“), es waren noch immer die Anderen, die christliche Gesellschaft, die den Juden in Europa und damit ihren Ghettos die Spielregeln aufgezwungen hatten bis hin zum nächtlichen Verschließen des Tores. Juden gestalteten ihren Stadtbezirk, das Ghetto, nach den Bedürfnissen ihrer Gemeinschaft, so weit das möglich war; aber der Platz wie auch die Regeln ihrer Existenz wurden ihnen zugewiesen und aufgezwungen.

Nachdem wir nun die Kleinigkeiten betrachtet haben, müssen wir die drei Sätze auf ihre Beziehung zueinander prüfen. Das führt uns zu einem Adverb. Der Blogger beginnt den dritten Satz mit dem kleinen, aber wichtigen Wort „ebenso“. Er versucht sich an einer Analogie des Kopftuchstreites mit einer Eskalation des europäischen Antisemitismus infolge der jüdischen Emanzipation. – Die kopftuchtragenden Musliminnen, die den Lehrberuf erstreben (aber noch nicht ergriffen haben), würden meines Erachtens für sich selbst den Begriff Assimilation empört zurückweisen. Wären sie (vollständig) assimiliert, gäbe es sie nicht als kopftuchtragende Musliminnen. – In Deutschland war die Folge der Emanzipation tatsächlich eine gesellschaftliche Neuformation antisemitischer Kräfte wie etwa die der Gründung der Antisemitenliga, mit dem Ziel, die Judenemanzipation rückgängig zu machen. Dabei fällt die neuere Ausformung des Antisemitismus auf Grundlage der „Rassetheorie“ zeitlich zusammen. Aber: Juden wurden auch zuvor geschlagen, vergewaltigt, ermordet und vertrieben.

Um die „ebenso“-Analogie zwischen der Eskalation des europäischen Antisemitismus und dem erregten Thema zu verdeutlichen, ist es hilfreich, die Schilderungen zu vergleichen. Dann müsste sich die jüdische Emanzipation anhand eines Einzelschicksals in Analogie so darstellen:

Ein europäischer Jude zieht mit seiner Frau nach Deutschland. Das Paar bekommt einen Sohn, und nachdem der Vater lange als kippatragender Hausmeister im preußischen Schuldienst gearbeitet hat, wobei kaum jemand ein Problem mit dem Kippaträger hatte, solange er nur die Suppenkessel in der Schulküche flickte, wurde das Kleidungsstück erst zum erregt diskutierten Thema, nachdem kippatragende Juden den Lehrberuf ergriffen.

Die Emanzipation der Juden in Europa war eine Entwicklung innerhalb der Aufklärung, die ausgehend von Religionskritik den Menschen für sein Schicksal verantwortlich machte. Nach Kant war die Aufklärung der „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Für jüdische Deutsche dagegen bedeutete sie auch den Ausgang des jüdischen Menschen aus seiner nicht selbst verschuldeten Entrechtung. Der Kopftuchstreit wird innerhalb einer aufgeklärten Gesellschaft geführt, die Emanzipation der Musliminnen mit einem Kopftuch ist nicht notwendig, denn sie verfügen bereits über alle Bürgerrechte. Nichts beweist das so sehr wie die Tatsache, dass einige von ihnen vor Gericht geklagt haben. Doch wenn die Emanzipation der Musliminnen mit einem Kopftuch in Analogie zur Emanzipation des Judentums weder notwendig war noch stattgefunden hat, kann das erregt diskutierte Thema wohl kaum mit dem eskalierenden Antisemitismus gleichgesetzt werden, den der Blogger als Reaktion als Reaktion auf die Emanzipation beschreibt.

Wie man es auch dreht und wendet: Es gibt historisch, ideen- und wirkungsgeschichtlich keine Verbindung und keine Analogie zwischen jüdischer Emanzipation, ihrer gesellschaftlichen Wirkung und dem erregt diskutierten Thema. Und ganz gleich, ob diese Überlegungen dem rezensierten Buch oder den Vorstellungen des Rezensenten entsprangen, die Gleichsetzung des Kopftuchstreits mit Antisemitismus ist in jeder Hinsicht falsch und durch nichts zu begründen.

Der Blogger, dem wir die Sätze verdanken, heißt Dr. Michael Blume. Derzeit arbeitet er unter anderem als Beauftragter gegen Antisemitismus im Dienst des Landes Baden-Württemberg. Er hat den scilogs-Preis für „wissenschaftliches Bloggen“ erhalten. Nachdem er kürzlich unter Übersteigerung einer Formulierung von Wolfgang Pohrt in einem kritischen Artikel als „Meister Proper des Antisemitismus“ bezeichnet wurde, hat er beschlossen, den eigenwilligen Titel als Ehre anzunehmen („… ich fühle mich durch diese Beschimpfung tatsächlich sehr „geehrt„!). Aber er scheint weitere Ziele zu haben, wenn er schreibt: „Jetzt müssen wir die „Achse des Guten“ also nur noch überzeugen, mich als „Kernseife der Antisemitismusbekämpfung“ zu beschimpfen…„, gefolgt von einem – Zwinkersmilie.

Historisch folgt der Emanzipation der jüdischen Deutschen der rassische Antisemitismus, der in den Öfen von Auschwitz und in den Wäldern des Ostens mit den Mitteln eines modernen Industriestaates seine grausame Erfüllung fand. Dass das erregt diskutierte Thema auch nur in entferntester Weise zu solchen Weiterungen führen könnte, denkt man nicht einmal in Absurdistan [8]. Das sollte auch dem Antisemitismusbeauftragten klar sein, dessen Ernennung zur Kernseife der Antisemitismusbekämpfung vielleicht sicherer ist, als man so ahnt.

[1] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/das-integrationsparadox-von-aladin-el-mafaalani-mein-buchtip-2018/

[2] Es gibt die Überzeugung, der Koran schreibe das Tragen des Kopftuchs vor, es wird auch argumentiert, dass die einschlägigen Suren diesen Schluss nicht zulassen. Aus der Praxis ist bekannt, dass die Kopftuchfrage mit einem fragwürdigen Ehrbegriff verbunden ist. Wesentlich ist, dass erst die Erklärung des Kopftuchs zum religiösen Symbol den Klageweg öffnet.

[3] Die aus einer vermögenden Familie stammende Ägypterin Hudā Schaʿrāwī verbrachte ihre Kindheit abgeschottet im Harem, wurde im Alter von zwölf Jahren verlobt, ein Jahr später verheiratet, lebte aber erst im Alter von 21 Jahren mit ihrem Gatten in häuslicher Gemeinschaft. Sie gründete u.a. die Ägyptische feministische Union, und als sie 1923 nach der Rückkehr von einem Treffen der International Alliance of Women zurückkehrte, nahm sie bei der Ankunft vor dem Bahnhof in Kairo medienwirksam ihren Schleier ab. Sie soll ihn dann in das Hafenbecken von Alexandria geworfen haben. Verschleierung betraf zu ihrer Zeit nur die ägyptische Oberschicht.

[4] Im Iran ist die Iranerin Shaparak Shajarizadeh zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilt worden, weil sie öffentlich gegenden Kopftuchzwang protestierte. Zwei Jahre der Haft sind ohne Bewährung. Ihr Verbrechen: Sie nahm die Verhüllung in der Öffentlichkeit ab und schwenkte diese an einem Stock (Foto). Das berichtet die „Krone“. Laut dem Gericht habe sie damit den Strafbestand der Anstiftung zur Prostitution erfüllt. Auch ihre Verteidigerin, die Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh, wurde verhaftet. In einem Video auf Twitter meinte sei: „Es bedeutet, ich soll für 20 Jahre zum Schweigen verurteilt werden. Tatsache ist, wir iranischen Frauen leben seit 40 Jahren im Gefängnis.“
http://kath.net/news/64439

[5] Assimilation wird heute in strukturell und kulturell unterschieden, und innerhalb dieser Unterteilung noch mehrfach ausdifferenziert. Der Begriff wird aber häufig verwendet, um eine Angleichung einer Gruppe an die Mehrheitsgesellschaft zu beschreiben, durch die die Eigenheiten der Gruppe schließlich nicht mehr wahrnehmbar sind. Daher werde ich den Begriff Assimilation nicht verwenden.
Der Brockhaus 1809 bis 1811 verwendet in Bezug auf das Judentum keinen der Begriffe Assimilation und Emanzipation.
Das Konversationslexikon von Pierer (1857 bis 1865) nennt in einem Artikel über die Juden den Begriff Emanzipation. Assimilation hingegen ist ein Begriff für medizinische Sachverhalte. http://www.zeno.org/Pierer-1857/A/Juden?hl=juden
Der Brockhaus von 1911 erläutert den Begriff Emanzipation auch am Beispiel der Juden, und der Prozess ihrer allmählichen rechtlichen Gleichstellung in Deutschland wird mit Emanzipation beschrieben:

In Deutschland, wo trotz des von Karl V. ihnen gewährten Reichsschutzes (1530 und 1541) noch Verfolgungen vorkamen und die unduldsamen Schutzprivilegien und Judenordnungen neben einzelnen Vergünstigungen fordauerten, machte sich erst durch die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrh. und das Auftreten Moses Mendelssohns und Lessings ein Umschwung zugunsten der J. geltend. Doch wurde erst 1803 der Leibzoll aufgehoben, und erst seit 1808 erfolgte ihre allmähliche Emanzipation (preuß. Edikt vom 11. März 1812), die nach mehrfachen Rückschritten (seit 1814 und nach 1848) durch die Gesetzgebung des Deutschen Reichs (seit 1871) durchgeführt ist.
Der Begriff Assimilation wird auch hier nur in Bezug auf medizinische Sachverhalte verwendet.

Einen Überblick über die Emanzipation des deutschen Judentums gibt die BPB in diesem Artikel:
http://www.bpb.de/izpb/7674/1815-1933-emanzipation-und-akkulturation?p=all

[6] Wie radikal in der russisschen Politik gedacht werden konnte, entnehmen wir dem folgenden Zitat von Konstantin Pobedonoszew, dem persönlichen Berater von Zar Alexander III., in dem wir auch der Assimilation wieder begegnen: „Ein Drittel (der russischen Juden) wird sterben, ein Drittel wird auswandern, und das letzte Drittel wird im russischen Volk völlig assimiliert werden.
Die „Protokolle der Weisen von Zion“, ein übles antisemitisches Machwerk aus dem Dunstkreis des zaristischen Geheimdienstes, wurde erstmals 1903 in Russland veröffentlicht.

[7] Die romantisierende Vorstellung vom Verlassen des Ghettos unterstellt, die deutschen Juden hätten ab 1817, als der Begriff Emanzipation geprägt wurde, vorwiegend in Ghettos gewohnt, während der Großteil real auf dem Lande lebte. Viele von ihnen waren bettelarm.

[8] Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, daß ein deutscher Pro-Erdogan-Aktivist, der sich gern als „aktivierenden Journalisten“ bezeichnet, und der auf Facebook zuletzt noch über 70.000 Follower hatte, in seinen Videos zeitweise solchen Unsinn behauptet hat: Man würde Muslime in Deutschland bald entrechten, enteignen und möglicherweise töten. Sie sollten deshalb unbedingt Grundbesitz in der Türkei erwerben und aus Deutschland verschwinden, so lange es noch möglich wäre. Ähnliches legt eine hier und da geäußerte und weiter verbreitete Überzeugung dar, die schlicht so formuliert wird: „Muslime sind die neuen Juden“, eine Behauptung, die z.B. in einer Dokumentation über den Rechtspopulisten Geert Wilders in der ARD ohne jeden Widerspruch geäußert wurde. Siehe
https://www.mena-watch.com/mena-analysen-beitraege/westdeutscher-rundfunk-geert-wilders-ein-spion-der-juden/

[9] Eine google-Suche mit den Worten „nicht säkulare Berufe“ in Anführungszeichen ergibt in 0,48 Sekunden keine Ergebnisse.

[10] „Noch ist das Radfahren nur in bestimmten Parks und auf Spielplätzen unter männlicher Aufsicht erlaubt. Dennoch ist es sehr wichtig, diese neuen Veränderungen zugunsten der Frauen zu würdigen, kleine Schritte, die aber auch etwas in den Köpfen, an der Art zu denken, verändern. Saudi-Arabien ist sehr konservativ. Die Regierung ist konservativ, aber die Leute selber sind sehr, sehr konservativ und sträuben sich gegen Veränderungen. Langfristig können solche kleinen Schritte etwas in den Köpfen dieser Leute bewegen.
Es soll inzwischen bahnbrechende Verbesserungen geben: Frauen dürfen auch in der Öffentlichkeit radeln, wenn sie von einem Mann begleitet werden. Seit 2018 geht es auch um das Motorradfahren. Dennoch bleiben Warnungen wie die, dass Fahrradfahren bei Frauen die Jungfräulichkeit gefährde.
Siehe https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-fahrrad-symbolisiert-fuer-mich-das-grundkonzept-der.1287.de.html?dram:article_id=259931

[11] Wer wissen möchte, wie es im Ansiedlungsrayon zuging, kann aufmerksam die acht Erzählungen in „Tewje der Milchmann“ von Scholem Rabinowitsch (Pseudonym Scholem Alejchem) lesen. Eine kurze Zusammenfassung : Es war schlimm. Und es wurde schlimmer.
Auch Rabinowitsch emigrierte schließlich in die USA. Er starb 1916 in New York. Anlässlich seiner Beerdigung waren die jüdischen Geschäfte New Yorks geschlossen, und Hunderttausende waren seinetwegen auf den Straßen.

[12] In einer Diskussionen zur Stellung der Frau in Katar wurde eingewandt, die Männer in Katar würden ihre Frauen, von denen jeder vier haben darf, auf Händen tragen. Dass an dem Argument, das ich zunächst als Scheinargument auffasste, wohl mehr dran ist als ich zunächst dachte, wurde mir klar, als ich erfuhr, dass es in Katar ungewöhnlich viele Scheidungen gäbe, die meist von den Frauen ausgingen. Der Gatte muss dann nicht nur für den Unterhalt der geschiedenen Frau aufkommen, er muss ihr auch ein Einfamilienhaus zur Verfügung stellen.