Einige Thesen zu Achille Mbembe

Für die nachfolgende Arbeit lagen die Aufsätze von Achille Mbembe in der englischen Übersetzung vor. Übertragungen ins Deutsche erfolgten mithilfe von deepL.com, sie werden sich also von bekannten deutschen Übersetzungen unterscheiden. Schwächen in der Übersetzung, die nicht sinnentstellend sind, wurden belassen.

Anders als Mbembe ist der Autor kein Historiker, Philosoph oder Großdenker. Aus diesem Grund ist die Arbeit mit Thesen überschrieben.

Die Lektüre setzt voraus, dass die wesentlichen Argumente der Debatte bekannt sind. Links sind in den vorangegangenen Beiträgen zu finden, die Fußnoten werden noch ergänzt.

Einleitung

In der Debatte zu Achille Mbembe und dem Vorwurf des Antisemitismus ist viel gesagt und geschrieben worden. In der Verteidigung Mbembes gegen den Vorwurf tauchen unterschiedliche Argumente auf. Es werden seine Auszeichnungnen aufgezählt (als wäre das ein Argument, man denke an die mit einer Auszeichnung verbundene Paulskirchenrede), seine Beteuerung, er wolle helfen die Welt zu reparieren wird als Argument vorgebracht, als hätten Antisemiten herkömmlichen und antizionistischen Geistes nicht auch moralisch argumentiert, und schließlich folgt der Vorwurf, die Kritiker hielten sich an einzelnen Stellen auf, Auszügen aus seinem Werk also, ohne das Große und Ganze zu begreifen.


Die Frage lautet tatsächlich, wie die derzeit bekannten Auszüge seines Werkes in das Ganze einzuordnen sind.

Necropolitics, die Shoah und Carl Schmitt

Zu Beginn des Aufsatzes „Necropolitics“ findet sich eine Diskusson der Shoah. Er schreibt über die Vernichtungslager: Insbesondere die Todeslager wurden unterschiedlich interpretiert als zentrale Metapher für souveräne und zerstörerische Gewalt und als letztes Zeichen der absoluten Macht des Negativen.1 Wenige Sätze später erklärt er: Ziel dieses Aufsatzes ist es nicht, die Singularität der Vernichtung der Juden zu debattieren oder beispielhaft hochzuhalten.


In der Folge entwickelt er eine universale Theorie der Gewalt, mit der er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschreiben möchte. Dafür ist es unerlässlich, die Verbrechen der Shoah zu inkorporieren, die von den antisemitischen Überzeugungen der Nationalsozialisten ausgingen; eine universale Theorie der Gewalt wäre sonst unvollständig. Aber das bedeutet, über einen Begriff des Antisemitismus zu verfügen, der über einen rassistischen Begriff, also eine Abwertung des Juden, hinausgeht. Es bedeutet anzuerkennen, dass dem Juden im Antisemitismus eine heimliche, dämonische Macht zugeschrieben wird, die Fähigkeit, aus dem Hintergrund die Geschicke der Welt ins Negative wenden zu können und zu wollen, und dass dem eliminatorischen Antisemitismus eine negative Erlösungsfantasie zugrunde liegt, in der die Vernichtung der Juden die Heilung der Welt darstellt.

Belege sind zahllos vorhanden, vom Johannesevangelium 8, 44 („Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel…“) bis hin zu Hitlers Rede am 30.01.1939 im Reichstag, als er die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ ankündigte2, die für das deutsche Reich ebenso, wenn nicht noch wichtiger war als der Weltkrieg, den es vom Zaum gebrochen hatte.


Dass Rassismus und Antisemitismus unterschiedliche Phänomene sind, muss für eine universale Theorie der Gewalt grundlegend sein, auch wenn die Auswirkungen ähnlich sind oder scheinen mögen, wenn rassistische und koloniale Gewalt zum Tod führt. Die Shoah, die Auslöschung des europäischen Judentums , ist allerdings singular, was Motivation, Durchführung und die Zahl der Opfer betrifft, was Mbembe nicht debattieren möchte. Er ordnet die Shoah unter einem Gewaltbegriff ein, der unterschiedslos ist. Das hat Konsequenzen.


Damit wird sein Begriff der Gewalt, vom Maximum bestimmt, nicht zur Shoah, sondern zu ihren Äußerlichkeiten: der bis dahin unbekannten Entschlossenheit zur Ausrottung, der unvorstellbaren Zahl der Todesopfer, der Techniken des Hinrichtens. Die dystopisch gezeichnete Zukunft wird zur Shoah, das heißt zu ihren Äußerlichkeiten; das „Camp“ – das Konzentrationslager – wird zur Metapher des Lagers überhaupt, und so kann Mbembe an einem Tag im Mai 2019 vor einem aufgeschlossenen deutschen Publikum erklären: … es gab noch nie so viele Lager auf der Welt als heute. Die Anzahl der Lager… diese Form… das Lager – Wir dachten, wir hätten uns damit befasst. Mit dem Holocaust. Dass es damit vorbei war. Dass wir die Lager niedergebrannt hätten. Nein, wir haben die Lager nicht niedergebrannt. Wir hatten noch nie so viele Lager auf diesem Planeten wie heute. Und die meisten von ihnen sind in Europa. Sie sind hier in Europa.3


Seine Worte sind eindeutig. Er bringt die Lager, damals wie heute, in einen gleichsetzenden Zusammenhang mit der Shoah. Die heutigen Flüchtlingslager in Europa, so würdelos der Aufenthalt der Betroffenen ist, sind keine Vernichtungslager, wie Mbembe unterstellt. Ihre Insassen sind keine Juden. Ihre Wachen sind keine SS-Männer. Aber in Mbembes Universaltheorie, in deren Kern nicht die Shoah, sondern deren Äußerlichkeit steht, sind dann auch alle der Würde Beraubten, unter Gewalt Leidenden Juden: „Neger“ und „Jude“ waren einst bevorzugte Namen für solche Objekte. Heute sind Neger und Juden unter anderen Namen bekannt: Der Islam, der Muslim, der Araber, der Ausländer, der Einwanderer, der Flüchtling, der Eindringling, um nur einige zu nennen.4
Natürlich leugnet Mbembe die Shoah nicht. Wenn Mbembe auf die Frage der Singularität des Holocausts im Interview mit DLF Kultur antwortet: Ich kenne keinen zurechnungsfähigen Menschen, der das Vorhaben der Vernichtung der Juden, das in Deutschland ins Werk gesetzt wurde, nicht als etwas so Einzigartiges und Bestürzendes begreift, dass es nicht nur die Deutschen, sondern die Menschheit als Ganze einschließt5, ist das ganz sicher ehrlich und aufrichtig gemeint.


Was bedeutet es also, wenn Mbembe schreibt: Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns.6


Es bedeutet, dass Mbembe keinen Begriff von Antisemitimus hat, und dass er in der Shoah nichts anderes sieht als die Kumulation einer Entwicklung, die eben auch die Apartheid der Buren hervorgebracht hat. Nicht mehr und nicht weniger bedeutet der Satz, und damit wird er zu einer Relativierung der Shoah.


Von DLF Kultur nach der Singularität und vergleichender Forschung gefragt, schreibt Mbembe weiter:


Lassen Sie mich wiederholen, dass ‚vergleichende Kolonialismusforschung‘ ein pulsierender Unterbereich von moderner Geschichte ist. Man mag darauf auf sehr kritische Weise schauen, und ich würde die Gelegenheit, darüber zu debattieren, schätzen. Er unterscheidet sich, soweit ich weiß, von der Holocaustforschung.7


Die Phrase er unterscheidet sich ist etwas unglücklich formuliert oder übersetzt, aber im Zusammenhang kann es nur um den Begriff des Holocausts in den verschiedenen Disziplinen gehen. Und Mbembe deutet an, dass er von Holocaustforschung, die sich seit vierzig Jahren entwickelt hat, nicht viel weiß. Aber wenn er nun eine universale Gewalttheorie entwirft, und den Holocaust zentral inkorporiert, oder besser dessen Äußerlichkeiten, wäre es da für ihn nicht geraten, sich der Arbeiten und des Fachwissens seiner Kollegen zu befleißigen? Die Singularität der Shoah ist in der Holocaustforschung nicht umstritten, und wenn er sich in Necropolitics auf Hannah Arendt bezieht, dann hat er schlicht den Zug verpasst.


Eine andere, im Grunde unausweichliche Folge der Inkorporation der Äußerlichkeiten der Shoah in seine Universaltheorie ist die Tatsache, dass dem Unterdrückten als dem Juden ein Feind gegenüberstehen muss, und dieser Feind wird letztlich die Züge des Nationalsozialismus tragen, freilich des Antisemitismus und letztlich jeder Ideologie beraubt, denn Ideologien scheinen nicht maßgeblich. Es kommt nicht von ungefähr, dass Mbembe sich auf Carl Schmitt beruft und dessen Feindbegriff übernimmt, den deutschen Denker, der das Führerprinzip rechtfertigte, die Nürnberger Rassegesetze als Verfassung der Freiheit feierte und in seiner Staatslehre den Begriff der Nation durch den der Rasse ablöste. So liest es sich bei Mbembe:


Dies ist eine eminent politische Epoche, denn „der spezifische politische Unterschied“, von dem aus „das Politische“ als solches definiert wird – wie zumindest Carl Schmitt argumentierte – ist der „zwischen Freund und Feind“.19 Wenn unsere heutige Welt eine Effektivierung Schmitts ist, dann ist der Begriff des Feindes in seiner konkreten und existentiellen Bedeutung zu verstehen und keineswegs als Metapher oder leere leblose Abstraktion. Der Feind, den Schmitt beschreibt, ist weder ein einfacher Konkurrent, noch ein Widersacher, noch ein privater Rivale, den man hassen oder für den man Antipathie empfinden könnte. Er ist vielmehr das Objekt eines heftigen Antagonismus. Sowohl körperlich als auch leiblich ist der Feind jenes Individuum, dessen physischer Tod durch die existentielle Verleugnung unseres eigenen Seins gerechtfertigt ist.


Aber zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden, ist eine Sache; den Feind mit Sicherheit zu identifizieren, ist etwas ganz anderes. In der Tat ist der Feind als allgegenwärtige und doch obskure Gestalt heute noch gefährlicher, weil er überall ist: ohne Gesicht, Namen oder Ort. Wenn sie ein Gesicht haben, ist es nur ein verschleiertes Gesicht, das Simulakrum eines Gesichts. Und wenn sie einen Namen haben, dann ist es vielleicht nur ein geliehener Name, ein falscher Name, dessen Hauptfunktion die Verstellung ist. Manchmal maskiert, ein anderes Mal in der Öffentlichkeit, dringt ein solcher Feind unter uns, um uns herum und sogar in uns selbst vor, bereit, mitten am Tag oder mitten in der Nacht aufzutauchen, jedes Mal, wenn seine Erscheinung die Vernichtung unserer Lebensweise, unserer Existenz bedroht. 8


An dieser Stelle muss dann doch angemerkt werden, dass unabhängig von der Rezeption Schmitts und seiner toxischen Vorstellungen in der Philosophie das Regime, das Schmitt unterstützte, nicht unwidersprochen blieb: Es wurde in einem Weltkrieg unter hohen Verlusten niedergerungen – eine Schmitt-Rezeption in der Praxis, in politischem und militärischem Handeln. Ob es sinnvoll ist, sich dann auf das Freund-Feind-Denken bei Carl Schmitt zu beziehen, müssen die Mbembe-Verteidiger sagen.


Mbembe entwickelt seinen Gedanken weiter:
Gestern wie heute verdankt das Politische, wie es von Schmitt konzipiert wurde, seine vulkanische Ladung der Tatsache, dass es eng mit einem existentiellen Machtwillen verbunden ist. Als solcher eröffnet es notwendigerweise und per definitionem die extreme Möglichkeit eines unendlichen Einsatzes reiner Mittel ohne Zweck, wie er in der Ausführung eines Mordes verkörpert ist.9


Wenn Mbembe die Shoah in seine Theorie inkorporiert, aber dessen Triebfeder, den Antisemitismus auslässt, also auf die Äußerlichkeiten der Shoah abhebt, dann wird das brutale Handeln und Morden zu einer jeder Ursache enthobenen Brutalität, so wie sie bei Mbembe zur Ausführung eines Mordes unter Einsatz reiner Mittel ohne Zweck wird.

Historisch ist das nicht korrekt, und daran muss Mbembe sich messen lassen. Die Shoah kam nicht von ungefähr, das Handeln des NS war keineswegs irrational: Innerhalb der Ideologie des NS war es so rational, wie der NS ihn durchgeführt hat, bis hin zu DIN-Normen für die Vernichtungslager.


Die Zitate finden sich gegen Ende des Aufsatzes The society of enmity. Zu Anfang des Aufsatzes gibt Mbembe ein Beispiel für die Ausübung von Gewalt in der Gegenwart, dass als konstitutiv für seine Theoriebildung betrachtet werden muss. Es ist der israelisch-palästinensische Konflikt in einer äußerst einseitigen und damit Israel dämonsierenden Darstellung. Er schreibt:


Tatsächlich kann die israelische Besetzung palästinensischer Territorien als Laboratorium für eine Reihe von Kontroll-, Überwachungs- und Trennungstechniken angesehen werden, die heute zunehmend auch an anderen Orten auf der Welt eingesetzt werden.10


Mit dieser Argumentation gibt Mbembe dem Konflikt eine weltweite Bedeutung. Es ist das intellektuelle Pendant zur Altherren-Lyrik von Grass, der schrieb: …die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.11 In diesem Spätwerk finden sich übrigens auch der Hinweis auf die Befürchtung, Antisemit genannt zu werden, und die besondere deutsche Verantwortung.


Mbembe führt immer wieder das Beispiel Gaza an, Gaza, Gaza und wieder Gaza, sei es in Necropolitics, sei es in The society of enmity (gleich nach den ersten Absätzen, angeführt von dem Satz Die Angst vor der Vernichtung steht also im Mittelpunkt der zeitgenössischen Trennungsprojekte), sei es in einem Vortrag12, oder im eher seltenen Interview13.


Weiter führt Mbembe in The society of enmity aus:


In vielerlei Hinsicht erinnern solche Praktiken an das geschmähte Modell der Apartheid mit ihren Bantustans, den riesigen Reservisten billiger Arbeitskräfte, ihren weißen Zonen, ihren vielfältigen Gerichtsbarkeiten und der mutwilligen Gewalt. Die Metapher der Apartheid trägt jedoch dem spezifischen Charakter des israelischen Trennungsprojekts nicht vollständig Rechnung. Das liegt in erster Linie daran, dass dieses Projekt auf einer ganz eigenen metaphysischen und existentiellen Grundlage beruht. Die apokalyptischen und katastrophalen Elemente, die ihm zugrunde liegen, sind weitaus komplexer und entstammen einem längeren historischen Horizont als die Elemente, die früher den südafrikanischen Calvinismus unterstützten.
[…]

Dies zeigt sich auch in seinen Verfahren und Techniken des Abrisses – von fast allem, ob von Infrastrukturen, Häusern, Straßen oder Landschaften – und seiner fanatischen Zerstörungspolitik, die darauf abzielt, das Leben der Palästinenser in einen Trümmerhaufen oder einen zur Säuberung bestimmten Müllhaufen zu verwandeln.
[…]

In Südafrika hätte eine vollständige Trennung das Überleben des Unterdrückers selbst untergraben. Ohne die gesamte einheimische Bevölkerung von Anfang an auszulöschen, war es für die weiße Minderheit unmöglich, eine systematische ethnische und rassische Säuberung nach dem Vorbild anderer Siedlerkolonien durchzuführen. Massenvertreibungen und Deportationen kamen kaum in Frage. Nachdem das Ineinandergreifen verschiedener rassischer Segmente zur Regel geworden war, konnte die Dialektik von Nähe, Distanz und Kontrolle niemals das paroxysmische Niveau erreichen, das in Palästina zu beobachten war.


Nach Mbembe gibt es also ein paroxysmisches Niveau, also Steigerungen der Dialektik wie aufeinanderfolgende, immer stärker werdende Vulkanausbrüche, die in Beziehung gesetzt werden zu Massenvertreibungen, Deportationen und die Auslöschung der einheimischen Bevölkerung. Mbembe behauptet nicht Genozid an den Palästinensern, aber er legt ihn nahe: … zur Säuberung bestimmten Müllhaufen zu verwandeln.14


Über diese Textauszüge wurde bereits geschrieben. Wenden wir uns lieber den apokalyptischen und katastrophalen Elementen zu, die Mbembe am Wirken sieht. Er hat sie nicht in The society of enmity beschrieben, sondern in Necropolitics (dort findet sich auch eine Diskussion der NS-Vernichtungslager).

Israel aus dem Geiste des Antijudaismus

Mbembe schreibt in Necropolitics einleitend zum Beispiel Israel:

Die spätmoderne koloniale Besatzung unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der frühmodernen Besatzung, insbesondere durch die Kombination des Disziplinären, des Biopolitischen und des Nekropolitischen. Die vollendetste Form der Nekro-Macht ist die zeitgenössische koloniale Besatzung.


Dann führt er aus (im Original in einem Absatz, hier wiedergegeben als Einzelsätze):

Hier leitet der Kolonialstaat seinen grundsätzlichen Anspruch auf Souveränität und Legitimität aus der Autorität seiner eigenen Geschichts- und Identitätserzählung ab, die ihrerseits von der Idee getragen wird, dass der Staat ein göttliches Existenzrecht hat; die Erzählung konkurriert mit einer anderen um den gleichen sakralen Raum.


Da die beiden Erzählungen unvereinbar sind und die beiden Bevölkerungen untrennbar miteinander verflochten sind, ist eine Abgrenzung des Territoriums auf der Grundlage der reinen Identität quasi unmöglich.


Gewalt und Souveränität beanspruchen in diesem Fall eine göttliche Grundlage: Das Volk selbst wird durch die Anbetung der einen Gottheit geschmiedet, und die nationale Identität wird als eine Identität gegen die andere, andere Gottheiten vorgestellt. 53


Geschichte, Geographie, Kartographie und Archäologie sollen diese Ansprüche stützen und damit Identität und Topographie eng miteinander verbinden.


In der Konsequenz werden koloniale Gewalt und Besatzung zutiefst durch den heiligen Terror der Wahrheit und Exklusivität (Massenvertreibungen, Umsiedlung „staatenloser“ Menschen in Flüchtlingslager, Ansiedlung neuer Kolonien) bestärkt. [im Original: „are profoundly underwritten“]


Unter dem Schrecken des Heiligen liegt die ständige Ausgrabung vermisster Knochen; die ständige Erinnerung an einen zerfetzten Körper, der in tausend Stücke gehauen wurde und nie mehr derselbe war; die Grenzen, oder besser gesagt, die Unmöglichkeit, ein „ursprüngliches Verbrechen„, einen unsäglichen Tod, für sich selbst darzustellen: der Schrecken des Holocaust.15


Das göttliche Existenzrecht, dass Mbembe behauptet, beruht auf einer Fehlannahme. Das Existenzrecht des heutigen Israel beruht auf einer Entscheidung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1947 und auf den Entscheidungen, die im Völkerbund zuvor getroffen wurden. Dass es eine religiöse Verbindung jüdischer Israelis und Juden weltweit zum Land gibt, ist sicher richtig, so wie es richtig ist, dass dort immer Juden siedelten, durch die Jahrhundert hinweg, etwa in Jerusalem und Hebron. Wer würde den Muslimen weitweit vorwerfen, eine besondere Beziehung zu Mekka und Medina zu haben, oder den Christen eine besondere Beziehung zu Jerusalem?


Was die Abgrenzung des Territoriums auf der Grundlage der reinen Identität betrifft, befinden wir uns hier im Bereich der philosophischen Dichtung. Israel ist es gelungen, im Unabhängigkeitskrieg das Territorium zu verteidigen; später im Sechs-Tage-Krieg wurden die Gegner geschlagen und Westbank wie Gazastreifen eingenommen. Welche Armee hätte Israel hindern sollen, die palästinensischen Araber in die Nachbarländer zu vertreiben? Dass die Vertreibung nicht stattgefunden hat, ist kein Beweis dafür, dass sie nicht hätte stattfinden können.


Wenn Mbembe schreibt, nationale Identität wird als eine Identität gegen die andere, andere Gottheiten vorgestellt, so meint er ganz bestimmt gegen, nicht neben andere Gottheiten. Weil Isreal das Volk Gottes sei, müsse es andere Völker mit anderen Göttern töten. Das ist der Kern der Behauptung. Die Identät des Staates wäre nur als Kampf und Abwehr zu bilden. Und die Souveränität wäre nicht politisch durch den von Teilungsbeschluss 1947 legitimiert, sondern religiös geprägt, und diese Prägung würde Gewalt gegen das andere Volk rechtfertigen.


Es folgt die Verbindung von Identität und Topographie, mit den Worten eines anderen Zeitalters: von Blut und Boden.


Dann folgt der heilige(n) Terror der Wahrheit und Exklusivitä„. Was hier gemeint ist, ist die Exklusivität als Volk Gottes, als auserwähltes Volk im Sinne des christlichen Antijudaismus: Dass sich das Judentum über andere Völker und Religionen stelle. Das Gegenteil ist wahr: Die Auserwählung in der hebräischen Bibel bedeutet besondere moralische Verpflichungen.


Was Mbembe sich unter dem Judentum vorstellt, ist eine Religion der Gewalt, und ganz oben ein rächender, strafender Gott. Er überträgt seine irrigen Vorstellungen der Religion auf den Staat, den Kolonialstaat, das israelische Volk. Aber das ist auch ein Angriff auf die jüdische Religion im Ganzen, also muss er eine lyrische Anmerkung ergänzen: dass der Holocaust den Körper zerstört habe; er schreibt von vermissten Knochen, spielt also unmittelbar auf die Bedeutung der Vollständigkeit des menschlichen Körpers im Judentum an und endet mit dem ursprüngliche(s)[n] Verbrechen, der Shoah. Was Mbembe zuvor beschrieben hat, waren die vermeintlichen Verbrechen Israels an den Palästinensern; nun bringt er das ursprüngliche Verbrechen ins Spiel, die Shoah, und was er da zusammenschreibt, lässt sich nur als historisches Trauma begreifen, das die seelisch Verletzten immer wieder zu Überreaktionen, wenn nicht zu Zwangshandlungen, bringt.16

Innerhalb des Absatzes behauptet Mbembe die göttliche Identität und gibt in der Fußnote die Monographie The Curse of Cain: The Violent Legacy of Monotheism von Regina M. Schwartz an. Das Buch ist vergriffen, dennoch lässt sich der Inhalt erschließen. Die Autorin, erfahren in vergleichender Literaturwissenschaft, nimmt sich der hebräischen Bibel an, beschäftigt sich mit der Darstellung von Gewalt, extrahiert die für sie interessanten Abschnitte und entwickelt mit poststrukturalistischen Methoden wie auch der Psychoanalyse eine Vorstellung des Werdens des Volkes Israel, die von fünf wesentlichen Elementen gekennzeichnet sein soll: dem Bund, dem Land, Verwandtschaft, Nationen, Erinnerung. Diese Elemente der Identitätsbildung seien verbunden mit Gewalt, die gegen die Anderen ausgeübt worden sei, Gewalt sei konstitutiv für die Ausbildung der Identität und nach Schwartz ein bleibendes Merkmal der folgenden Gesellschaften des Westens.


Aus einer zustimmenden Rezension erfahren wir:

Es gibt Gewalt in der biblischen Konstruktion des Anderen. Die Gewalt der Identitätsbildung autorisiert unzählige Gewaltakte, die im Namen religiöser, ethnischer, rassischer, nationaler und geschlechtlicher Identität begangen werden. […] Im Zusammenhang mit der Verbindung von Monotheismus und Gewalt stellt sich eine tiefgreifende Frage: „Bedeutet dies, dass der Preis für eine eigenständige Identität Gewalt, ja sogar Auslöschung sein muss? 17


Methodik und Thesen blieben nicht ohne Widerspruch. Dieses Buch wird wohl am interessantesten für Menschen sein, für die ihre widerstrebende Entdeckung, dass es im biblischen Monotheismus vielleicht mehr gibt als Knappheit und die Herrschaft der Gewalt, ebenso überraschend erscheint wie für die Autorin, schrieb Eugene Webb.18

Carol Meyers lässt uns wissen:

Religiöse Sanktionen für Gewalt, ob politisch oder persönlich, sind kaum ausschließlich monotheistischen Traditionen vorbehalten. Doch Schwartz hätte es in Der Fluch des Kain anders gewollt. Im Vorwort zu ihrem Buch räumt sie ein, dass die schädliche monotheistische Denkweise, die sie entlarvt, „nicht einfach oder ursprünglich biblisch“ sei; dennoch geht sie davon aus, dass praktisch alle Gewalt in der Welt, selbst im „Klima der östlichen Religionen“, irgendwie verhängnisvoll durch Prinzipien der Exklusivität verdorben ist, die sie in biblischen Vorstellungen von einem Gott verschlüsselt sieht.

[…]

Die Diskussion über das Vorhandensein und die Anwendung von Gewalt in jeder religiösen Tradition ist ein lohnendes Unterfangen; die Zuordnung eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem biblischen Monotheismus und den militärischen Schrecken des Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist eine andere Sache. Letzteres Projekt, das Projekt von Schwartz, ist mit Gefahren behaftet. Es verfälscht und verzerrt sowohl den biblischen Monotheismus als auch die feindselige Haltung der alten Israeliten gegenüber vielen (aber nicht allen!) anderen Gruppen, und es liefert auch Futter für die antijudaistischen Tendenzen, die in verschiedenen politischen und theologischen Kreisen fortbestehen, und zwar in ähnlicher Weise, wie die Kritik am Patriarchat in der hebräischen Bibel eine heimtückische Art von feministischem Antijudaismus fördert.19


Die angeführten Zitate sollten die Arbeit von Schwartz hinreichend kennzeichnen. Sie bezieht sich auf das Werden des historischen Volkes Israel, das mit der Konstruktion des Anderen und der beständig gegen ihn ausgeübten Gewalt verbunden sei, indem sie einen Teil des Gesamttextes untersucht, um am Ende ihres Buches festzustellen, dass die hebräische Bibel doch mehr zu bieten hat, als sie ursprünglich erwartete.

Es bleibt ihr Geheimnis, warum sie ihre Text nicht überarbeitete. Wesentlich ist auch, dass sie über die Erinnerung das Prinzip der Identität durch Gewalt über das jüdische Erbe im Christentum in der Geschichte des Westens zu erkennen meint. Das geschilderte Prinzip der Identitätsbildung gilt damit auch für die christlich geprägten Nationen des Westens (was die Frage aufwirft, warum es nicht auch für nicht-westliche christliche Nationen gelten soll).

Das ist eine andere Aussage als bei Mbembe. Mbembe benutzt die Monographie von Schwartz als Munition gegen den modernen Staat Israel. Würde er die Meinung teilen, dass der gesamte Westen durch die von Schwartz behaupteten Mechanismen geprägt sei, müsste er sie nicht gegen Israel zitieren. Aber er geht noch einen Schritt weiter und bezieht das Werden des Volkes Israel in der hebräischen Bibel nach Schwartz unmittelbar auf den heutigen Staat Israel, und eben nicht die Erinnerung an das Werden. Bei ihm wiederholt sich die Geschichte der Identitätsbildung nach Schwartz in der Gegenwart, und das bereits angesprochene Futter für die antijudaistischen Tendenzen, die in verschiedenen politischen und theologischen Kreisen fortbestehen, wird von Mbembe vollends zur Geltung gebracht., indem er es weit verstreut unter den Hungrigen, um im Bilde zu bleiben.


Damit belebt er den in Jahrhunderten geprägten christlichen Antijudaismus wieder, in dessen falscher Vorstellung das Judentum die Religion der Gewalt, das Christentum die Religion des Friedens sei. Auch der Vorwurf an die Juden, sich für das auserwählte Volk zu halten und daraus eine gehobene Sonderstellung für sich selbst zu beanspruchen, wird von Mbembe reproduziert. Hinzu kommt der Vorwurf der Verbindung mit dem Land Israel, was auch in der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung mit dem Staat Israel eine Entsprechung hat: Dem Landräuber Israel als Transparent und als skandierte Parole.


Das Israelbild von Mbembe ist durchzogen von Antijudaismus. Die Weiterungen scheinen ihm nicht bewusst zu sein, aber da ist er wohl zu sehr Großdenker und Generalist: Wenn seine Auffassung von Israel religiös geprägt ist, dann muss auch das Judentum außerhalb Israels seinen antijudaistischen Auffassungen unterliegen. Dann ist das heutige Judentum insgesamt von Gewalt geprägt. Es ist offenkundig, dass er diese Abhängigkeiten nicht zusammenbringt.


Mbembe selbst übrigens sagt über sein Werk in einem E-Mail-Interview mit dem Radiosender DLF Kultur:


Sie werden nicht eine einzige Spur Hass oder Vorurteil darin finden oder irgend einen Aufruf zu Gewalt.20


Mbembe lädt uns mit weiteren Textstellen ein, seine Auffassung der hebräischen Bibel zu teilen. So heißt es in The society of enmity:


Der Wunsch nach einem Feind, nach Apartheid, die Phantasie der Vernichtung, solch unbändige Kräfte können als prägend für die grundlegende Schusslinie, ja für den entscheidenden Kampf zu Beginn dieses Jahrhunderts angesehen werden. Als die grundlegenden Vektoren der zeitgenössischen Gehirnwäsche treiben sie demokratische Regime überall in eine Art bösartigen Stumpfsinn und, berauscht und stinkend, in ein Leben von Betrunkenen. Da sie sowohl diffuse psychische Strukturen als auch allgemeine leidenschaftliche Kräfte sind, sind sie für die vorherrschende affektive Tonalität unserer Zeit verantwortlich und dienen dazu, viele zeitgenössische Kämpfe und Mobilisierungen zu schärfen. Diese Kämpfe und Mobilisierungen wiederum nähren sich aus einer bedrohlichen und anxiogenen [med. für angstauslösende Substanzen] Sicht der Welt und privilegieren eine Logik des Misstrauens, bei der alles als geheim oder als Teil einer Verschwörung oder eines Komplotts angesehen werden muss.17 Zu ihren letzten Konsequenzen gedrängt, führen sie fast unerbittlich zu einem Wunsch nach Zerstörung, einem Wunsch, nach dem Blut (vergossenes Blut) Gesetz macht, in ausdrücklicher Anwendung des alten Diktums der Vergeltung, dem Auge-um-Auge oder lex talionis des Alten Testaments.21

Man kann die Talionsformel verschieden betrachten. Dass der Westen nach ihr gehandelt habe und es damit eine Praxis der Vergeltung gab und gibt, die sich aus einer Falschauffassung der Talionsformel ergibt – man betrachte die Rechtsgeschichte des Mittelalters. Dass die Talionsformel in einem mehr oder minder bewussten Missverstehen des christlichen Westens als Aufforderung zur Vergeltung im Judentum mißinterpretiert wurde. Nur hätte Mbembe dazu seinem Satz einige Worte hinzufügen müssen.


Stattdessen verbreitet er die antijudaistische Behauptung vom Judentum als der rächenden, gewalttätigen Religion. Die dem Altorientalischen entstammende Talionsformel Auge um Auge, Zahn um Zahn markiert tatsächlich den Übergang von der maßlosen Blutrache zu einem System des Rechts, und der rabbinischen Auslegung folgend und unter Berücksichtgung der Bedeutung22 des Lebens im Judentum beginnt der Abschied von der christlichen lex talionis durch das Bemühen, körperliche Strafen durch andere Formen des Ausgleichs zu ersetzen. Das war Praxis im Judentum lange bevor die christlichen Gesellschaften in Europa das Prinzip anzuwenden begannen, indem etwa im Mittelalter dem Dieb die Hand abgeschlagen wurde unter Berufung auf die lex talionis.


Auch in diesem Fall äußert Mbembe sich antijudaistisch: Die Kämpfe, der Wunsch nach Zerstörung werden aus der jüdischen Religion motiviert dargestellt, unter Missachtung aller Kenntnisse zur eigentlichen Bedeutung der Talionsformel wie auch ihres Mißbrauches im christlichen Euopa. 23


Im wüsten, Israel-dämonisierenden Vorwort On Palestine, das Mbembe zum 2014 erschienenen Band Apartheid Israel: The Politics of an Analogy beisteuerte, äußerte er unter anderem:

Wir alle wissen, warum sie tun, was sie tun – die Armee, die Polizei, die Siedler, die Bombenpiloten, die Zeloten und die Kohorte der internationalen Pharisäer und ihre obligatorische Rechtschaffenheit, angefangen bei den Vereinigten Staaten von Amerika.

Während Zeloten als Eiferer gelten, bedeutet der Begriff Pharisäer so viel wie selbstgerechter Mensch und Heuchler. Nach Matthäus 5, 20 habe Jesus von Nazareth gesagt: Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.


Daraus leiteten die Christen späterer Zeiten ihre Vorstellung des Heuchlers ab, die sie auf die Juden übertrugen. Die antisemitische Überzeugung im Christentum, das Juden grundsätzlich lügen würden (vgl. Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen) hat auch hier ihren Ursprung.24

Dass Jesus von Nazareth nach heutigen Erkenntnissen den historischen Pharisäern nahe stand oder vermutlich selbst zu ihnen gehörte, hat sich bisher noch nicht weit herumgesprochen.


In der Verwendung des antijudaistischen Begriffs Pharisäer liegt noch eine weitere Problematik. Mit der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römische Besatzungsmacht, verbunden mit dem grausamen Tod vieler Juden durch die Römer und der Niederlage der aufständischen Zeloten, fehlte dem Judentum der zentrale Ort für den Gottesdienst. Die Pharisäer waren eine der verbliebene Strömung im Judentum; es gelang, ein Judentum ohne Tempel zu entwickeln. In der Folge entstand das Rabbinische Judentum, das noch heute Bestand hat.

Vor diesem Hintergrund kann die Verwendung des Begriffs Pharisäer im antijudaistischen Kontext auch die Herabsetzung des Judentums bedeuten, das die Pharisäer hervorgebracht haben. Allerdings ist nicht anzunehmen, dass Mbembe diese Folgerung seiner Worte bewusst ist; er setzt Zeloten (ohne Wirkung auf die spätere Geschichte des Judentums) und Pharisäer (mit Wirkung) nebeneinander; die Zeloten sind ihm die Israelis, die Pharisäer deren internationale Unterstützer, die er auf diese Weise als jüdisch markiert, und das ist eine weitere Ebene in diesem Satz, in dem obligatorische Rechtschaffenheit ein Echo des Pharisäers ist, als ob Mbembes Pharisäer nicht für sich stehen könnte, oder aber er seinen Lesern nicht zutraut, Pharisäer in seinem Sinn aufzufassen, er muss eben noch einen drauf setzen, wie man so sagt.


Im Vorwort ist dies der einzige Textauszug, in dem Mbembe Antijudaismen formuliert. Sonst ist seine Sprache modern. Das zeigt, dass Mbembe sein negativ-mythisches Israel nicht ohne seine antijudaistischen Vorstellungen schildern kann. Wenn es um Israel geht, reichen ihm Eiferer und Heuchler nicht aus, es müssen Zeloten und Pharisäer sein.

Fazit

Mbembe imaginiert einen negativen, manichäischen Israel-Mythos. Seine Schilderungen des Lebens palästinensischer Araber unter israelischer Besatzung sind Erzählungen, die Märchen gleichen, was die Struktur betrifft: Es gibt Israel als das Böse, es gibt die unterdrückten Palästinenser, die im Mythos nur deshalb auftauchen, weil es sonst nichts zu erzählen gäbe. Wäre Israel die Hexe aus Hänsel und Gretel, an denen die Hexe einen Genozid plant, dann müsste es am Ende im Ofen verbrennen.

Darstellungen dieser Art sind bekannt, man betrachte die BDS-Webseite, es gibt kein Novum in der Darstellung selbst. Das Novum besteht darin, dass eine jeder Realität enthobene mythische Darstellung wieder und wieder von einem angesehenen Intellektuellen verbreitet wird, ohne dass die akademische Welt Anstoß nimmt, obwohl es doch überall heißt, er sei nicht nur Philosoph, sondern auch Historiker.


Dass Mbembe in seinen Schriften Necropolitics und The society of enmity das Menschheitsverbrechen der Shoah integrieren muss, liegt auf der Hand; eine universale Darstellung der Gewalt wäre sonst unvollständig. Dass er auf der anderen Seite den „Der Führer schützt das Recht„-NS-Denker Carl Schmitt einbezieht, ist nur konsequent. Auf diese Weise entwickelt er eine Theorie, die ein toxisches Konzentrat aus dem Menschheitsverbrechen der Shoah und radikal inhumanem Denken darstellt.

Es ist in der Folge der Theorie immament, dass diejenigen, die Mbembe heute als Gewalt Ausübende darstellt oder benennt, den Nationalsozialisten gleichen müssen, während die Opfer zu den Juden werden, deren Leiden und Leidensweg Mbmebe ohne Berücksichtigung des Antisemitismus als einem eigenständigen Phänomen mit einer eigenen Geistes- und Wirkungsgeschichte, die viel früher einsetzt als seine Darlegungen zur Verbindung von Kolonialismus und Kapitalismus, nicht erfassen kann. Käme es Mbembe in den Sinn, die von ihm zutiefst diffamierten Israelis als Nazis zu bezeichnen? Ob Mbembe aus der angedeuteten Traumatisierung der Israelis durch die Shoah nicht nur Überreaktionen, sondern auch Wiederholungszwang ableitet, ist sein Geheimnis25.


In der Darstellung der Israelis geht Mbembe einen anderen Weg. Er bedient sich antjudaistischer, über Jahrhunderte eingeübter Vorurteile. Ich glaube nicht, dass Mbembe ein Problem mit jüdischen Menschen hat, auch wenn die hypothetische Frage aufkommt, wie er mit einem bekennenden Zionisten umgehen würde26. Die antizionistische Auffassung des Zionismus, das sogenannte palästinensische Narrativ, durchzieht das akademische Leben in verschiedenen Ländern und konfrontiert damit auch Mbembe. Im Vereinigten Königreich ist er zu einer Konferenz eingeladen, zu der er nicht kommen wird, an der auch eine zionistische Einrichtung teilnimmt, und prompt verlangt ein Teil der Studenten deren Ausschluss. In Südafrika nimmt er an einer Konferenz über Erinnerung an das Leiden teil, zu der sich auch israelische Akademiker angemeldet haben. Nach Rücksprache mit irgendeiner BDS-Zentrale werden die israelischen Akademiker ausgeladen, obwohl zugegeben wird, dass die Entscheidung nicht den BDS-Prinzipien entspricht. Aber BDS hat herausgefunden, dass kein einziger palästinensischer Akademiker unter den Angemeldeten wäre, dabei müssten doch ebenso viele Palästinenser wie Israelis teilnehmen.27 Mbembe tritt dabei nicht in Erscheinung; beide Fälle verdeutlichen, wie aufgeladen das akademische Milieu ist.

Dass Mbembe mit die Welt reparieren de facto das jüdische Tikkun Olam des frühen rabbinischen Judentums propagiert28, ist ein Widerspruch, den wohl auch Mbembe selbst nicht auflösen kann. So wüst kann es zugehen in einer Philosophenstube.


Natürlich hat Mbeme den BDS unterstützt, einmal durch sein Vorwort zu Apartheid Israel: The Politics of an Analogy, dessen Erlöse an PACBI29 gehen, einer Organisation zum akademischen Boykott Israels unter Führung des BDS-Außenministers. Und er hat dort Forderungen formuliert, die mit denen des BDS übereinstimmen. Dass er kein BDS-Mitglied sei, ist eine Feststellung, die vom Wesentlichen ablenkt. Man muss kein Mitglied von irgend etwas sein, um Forderungen von irgend etwas zu unterstützen.


Es überrascht, wie positiv Mbembes Arbeiten trotz Antijudaismus und Israel-Schauermärchen rezipiert werden. Wie heftig er verteidigt wird. Antisemitismus beginnt beim abfälligen Wort, bei jahrhundertalten Stereotypen. Er endet in den Vernichtungslagern, den Öfen von Auschwitz, den Erschießungsplätzen und -gruben in den schwarzen Wäldern des Ostens und der Leichenverbrennung und den Knochenmühlen der Aktion 1005. Der Antisemit trägt nicht zwangsläufig eine SS-Uniform, wie man hierzulande allzu oft denken mag; Antisemitismus ist ein weites Feld.


Und Mbembe, dem ich nicht vorwerfen will, Antisemit zu sein in einer Zeit, in der es paradoxerweise Antisemitismus, aber kaum Antisemiten gibt, ist mit seinen antijudaistisch geprägten antisemitischen Äußerungen nicht allein. Die deutsche und europäische Geistesgeschichte, die Aufklärung sind voll von antisemitischen Äußerungen, an die Mbembe anschließt. Er steht damit in einer Tradition mit Denkern wie Voltaire und Hegel, und der Platz mag ihm wohl gefallen.


  1. Mbembé, J.-A. and Libby Meintjes. „Necropolitics.“ Public Culture, vol. 15 no. 1, 2003, p. 11-40. Project MUSE muse.jhu.edu/article/39984.  

  2. Siehe z.B. hier: http://www.holocaust-chronologie.de/artikel/hitlers-drohung.html 

  3. Achille Mbembe; “ Körper als Grenzen. Das Recht auf Mobilität im planetaren Zeitalter „, Vortrag im Schauspielhaus Düsseldorf am 12.05.2019. Das Zitat findet sich nicht im Manuskript, das erheblich vom Vortrag abweicht, sondern in der Videoaufzeichnung, siehe auch hier: https://www.0x8000.de/2020/04/27/achille-mbembe-zitate/#Vortrag_im_Schauspielhaus_Duesseldorf_(2019)

    Weder der Vergleich mit den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus noch die Behauptung über die Anzahl sind zulässig. Die Forscher des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) haben dankenswerterweise über einige Jahre durchgezählt und kamen auf 42.500. Und da Mbembe von Europa spricht, sind die Kriegsgefangenen- wie auch die Lager für Emigranten (Transitlager) nicht besetzter Staaten hinzuzuzählen. Dazu kommt das ausgedehnte System sowjetischer Straflager, der Archipel Gulag. Es ist schwer vorstellbar, dass die derzeitige Anzahl an Lagern in Europa höher liege sollte.

    Mbembe hat in einem weiteren Punkt unrecht. Denn niemand kann behaupten, „wir hätten uns damit befasst“ in einem abschließenden Sinn. Nachdem das Deutsche Reich bezwungen war, wurden viele Lager NS-Lager aufgelöst, aber nicht alle. In der Sowjetischen Besatzungszone wurden einige Lager weiter betrieben. Die Anzahl der Kriegsgefangenenlager wuchs erneut, nun mit den Angehörigen der Wehrmacht als Insassen. Teile des Kontinents waren von Lagern für Displaced Persons überzogen, bis hin nach Zypern und in das britische Mandatsgebiet Palästina, und einige davon waren mit Stacheldraht gesichert; für die Passagiere der Exodus wurden 1947 bei Hamburg sogar Wachtürme wieder aufgebaut. In der Sowjetunion kamen mit Kriegsende die Prüf- und Filtrationslager für ehemalige Kriegsgefangene hinzu, denen Stalin nicht über den Weg traute.

    Der Vergleich des Historikers Mbembe ist so falsch, wie ein Vergleich falsch sein kann. Die Entrüstung über die menschenunwürdigen Lager im heutigen Europa ist zweifellos richtig, doch im Bestreben, deren Existenz zu skandalisieren („den Menschen die Augen öffnen“) greift er zum Zwecke höherer Moral auf den Holocaust zurück und missbraucht damit das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen. Auch das ist eine Holocaustrelativierung. Das USHMM hat dazu einen klaren Standpunkt: „The United States Holocaust Memorial Museum unequivocally rejects efforts to create analogies between the Holocaust and other events, whether historical or contemporary.

    Zur Anzahl der NS-Lager: https://www.nytimes.com/2013/03/03/sunday-review/the-holocaust-just-got-more-shocking.html?hp&_r=0

    Zur Stellungnahme des USHMM: https://www.ushmm.org/information/press/press-releases/statement-regarding-the-museums-position-on-holocaust-analogies  

  4. Achille Mbembe: The society of enmity, in Radical Philosophy (2016), online hier: https://www.radicalphilosophyarchive.com/article/the-society-of-enmity/ 

  5. Siehe https://www.deutschlandfunkkultur.de/achille-mbembe-antwortet-kritikern-diese-unterstellung.1013.de.html?dram:article_id=475398. 

  6. The society if enmity 

  7. DLF Kultur 

  8. The Society of enmity 

  9. The society of enmity 

  10. The society of enmity 

  11. Günter Grass: Was gesagt werden muss, 2012, Gedicht, das in mehreren Tageszeitungen veröffentlicht wurde, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Was_gesagt_werden_muss  

  12. Siehe Fußnote 2. Der Abschnitt zu Gaza wurde von Mbembe nicht vorgetragen, ist aber im Manuskript enthalten, siehe chrome-extension://oemmndcbldboiebfnladdacbdfmadadm/https://www.dhaus.de/download/6698/achille_mbembe_vortrag_pdf.pdf  

  13. New Frame: Thoughts on the planetary: An interview with Achille Mbembe, 05.09.2019, siehe: Thoughts on the planetary: An interview with Achille Mbembe 

  14. Zitat zu Genozid ergänzen 

  15. Necropolitics 

  16. Mbembe deutet das Trauma an, ohne es zu beschreiben. Was er tatsächlich meint, erschließt sich aus weiteren Texten. 

  17. Reviewed Work: THE CURSE OF CAIN: THE VIOLENT LEGACY OF MONOTHEISM by Regina M. Schwartz, Review by: Esther Fuchs, Hebrew StudiesVol. 39 (1998), siehe https://www.jstor.org/stable/27909629?seq=1#metadata_info_ta 

  18. Review: The Case against God, Reviewed Work: The Curse of Cain: The Violent Legacy of Monotheism by Regina M. SchwartzReview by: Eugene Webb, in The Review of PoliticsVol. 60, No. 1 (Winter, 1998), siehe https://www.jstor.org/stable/1408344?seq=1#metadata_info_tab_contents 

  19. Reviewed Work: The Curse of Cain: The Violent Legacy of Monotheism by Regina M. Schwartz, Review by: Carol Meyers, ShofarVol. 18, No. 1, siehe https://www.jstor.org/stable/42942997?seq=1#metadata_info_tab_contents  

  20. DLF Kultur 

  21. The society of enmity 

  22. „Die Talionsformel wird dann auch im antiken Judentum (mit Ausnahme Philos) nahezu einhellig im Sinne finanzieller Ersatzleistung ausgelegt […] Tatsächlich sind die Übereinstimmungen bereits zwischen Altem und Neuem Testament, und auch zwischen Urchristentum und seiner frühjüdischen Umwelt in der Ethik des Verzichts auf eigenmächtige Vergeltung’zugunsten derjenigen Gottes sehr viel größer als die Auslegungstradition es vermuten lässt.“ in Lebenswelt und Gemeinschaft: Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments, von Alexandra Grund-Wittenberg 

  23.   „(…) wurden im Mittelalter in vielen europäischen Ländern grausame gerichtliche Vergeltungsbräuche eingeführt, und man nahm an, dass sie (…) biblischen Bestimmungen entsprachen. Doch in Wirklichkeit wird weder irgendein Fall einer körperlichen Talion in der Bibel berichtet, noch war eine solche Talion die Absicht des biblischen Gesetzes, wie wir heute aufgrund der Kenntnis älterer altorientalischer Gesetzeskodizes wissen (…) Die rabbinische Behauptung, hier gehe es um einen finanziellen Ausgleich, nicht um buchstäbliche körperliche Talion, war daher (…) korrekt.“ zitiert nach: W. Gunther Plaut (Hrsg.), Annette Böckler (Autoris. Übers. u. Bearb.), Walter Homolka(Einf.): Schemot = Shemot = Exodus., 2. Aufl., 1. Aufl. der Sonderausg., Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, ISBN 978-3-579-05493-3, S. 243 ff.  

  24. Um zu verdeutlichen, in welch geistige Tradition Mbembe sich einordnet: „In dieser großen, vielleicht endgültigen Auseinandersetzung zwischen zwei weltfernen Seelen stehen wir heute. Und diese Auseinandersetzung des deutschen Genius mit dem jüdischen Dämon hat ein Halbjude (Schmitz) ungewollt in seinem Wesen gekennzeichnet. Er schreibt: „Der böse Dämon der Juden ist das… Pharisäertum.“ Aus Alfred Rosenberg, Der Mythos der 20. Jahrhunderts 

  25. Die Frage ist inzwischen geklärt: „In dem Maße, wie die magische Illusion der ,Befreiung‘ sich auflöst, versinkt Israel wie die gesamte Postkolonie in der Wiederholung: Wiederholung des Verbrechens, Wiederholung der Käuflichkeit, Wiederholung der verlogenen Versprechen, Wiederholung der Dummheit und des Falschen, Wiederholung des Rechts zur Ungerechtigkeit und zur Untat, Wiederholung der schändlichen Arbeit, die darin besteht, den Platz der Mörder einzunehmen und das dumme Leben derer zu reproduzieren, die, gestern Opfer, heute Verfolger, sich jenem schwachsinnigen Spiel hingeben, das Vergewaltigung, Raub, Kolonisierung und Schutzgelderpressung heißt.“, in faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/achille-mbembes-artikel-israel-die-juden-und-wir-16760757.html?premium  

  26. Die Haltung Mbembes zur Isaelin  Prof. Shifra Sagy von der Ben Gurion Universität sollte hinreichend charakteristisch sein, dabei steht nicht einmal die Frage, ob sie sich selbst als Zionistin versteht. 

  27. Siehe z.B. https://jewsdownunder.com/2019/04/09/boycott-calls-against-israel-the-battle-over-bds-in-south-africa-an-analysis/  

  28. Also jenes Judentums, das auch aus den Pharisäern hervorgegangen ist 

  29. The Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel, siehe z.B. https://bdsmovement.net/pacbi/academic-boycott-guidelines